Eine Geschichte des zeitgenössischen israelischen Anarchismus

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Eine anonyme Person zeichnet im Gespräch mit uns die Geschichte und Entwicklung des zeitgenössischen israelischen Anarchismus nach von seinen Ursprüngen über die Punk- und Tierbefreiungsbewegung bis hin zu einer kritischen Analyse des Werdegangs von Anarchists Against the Wall. Abschließend reflektiert sie_er über die Funktion der Gewaltfreiheitsrhetorik in Bezug auf Israel und Palästina. Wir empfehlen dieses Interview dringend allen, die sich für den Konflikt zwischen Palästina und Israel interessieren oder für die strategischen Herausforderungen, die die Schaffung einer anarchistischen Opposition unter widrigen Umständen mit sich bringt.

Gibt es eine Kontinuität zwischen der heutigen israelischen anarchistischen Bewegung und den anarchistischen Strömungen, die der gegenkulturellen Welle der frühen 90er Jahre vorausgingen?

Leider überhaupt nicht. Vielleicht ist das aber auch gar nicht so schlecht.

In den vorangegangenen hundert Jahren waren israelische Anarchist*innen an einigen erfolgreichen Bestrebungen beteiligt, allerdings immer zu einem hohen Preis: der Unterwerfung des Politischen unter das Soziale, was im Grunde BuberSpeak für den Versuch war, neue Welten um die bestehende herum zu bauen, anstatt auf ihrer schwelenden Asche. Die Kibbuzim (jüdisch-sozialistische landwirtschaftliche Siedlungen) dienen als warnendes Beispiel, falls es noch eines solchen Beispiels bedarf, dafür wie Anarchist*innen durch zaghafte Kooperationen, die auf einer “vorübergehenden” Kompromittierung unserer konfrontativen und politischen Ablehnung von Hierarchien beruhen, zu Handlanger*innen autoritärer Projekte werden.

So seltsam es heute auch klingen mag, viele säkulare europäische Jüd*innen sahen um die vorige Jahrhundertwende eine stillschweigende Verbindung zwischen Zionismus und Anarchismus. Da sie in Ghettos lebten und vom Nationalethos ihrer eigenen Länder ausgeschlossen waren, fühlten sie sich zu Tendenzen hingezogen, die - in ihrem persönlichen Leben, wenn auch nicht in den Augen der Geschichte - entgegengesetzte magnetische Pole boten, mit denen sie sich wehren konnten: Anarchismus, Marxismus und Zionismus. Ironischerweise hielten große Teile der Menschen in den jüdischen Ghettos wie von anarchistischen Schriftsteller*innen, wie Voline in Russland dokumentiert, den Zionismus für die verrückteste und utopischste der drei Strömungen.

Die Bindung der alten Anarchist*innen an ihre jüdische Identität machte es ihnen möglich, ihre umanità nova, ihre Vision einer neuen Menschheit, in eine Vision des Zionismus von einem neuen Jüdischsein zu integrieren, als “Muskeljüd*innen” Israels, die an die Stelle von verängstigten Ghetto Bewohner*innen treten sollten, was als Vorläufer der modernen Identitätspolitik angesehen werden könnte. Vor Ort zeigte sich diese Verdrängung unter anderem darin, dass sich die egalitären Kibbuzim-Gemeinschaften im Eiltempo in strategische Kolonialinstrumente eines entstehenden Staates verwandelten, der die einheimische Bevölkerung vom Land vertreiben wollte.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass 1994 die erste Vinyl-Veröffentlichung der ersten israelischen anarchistischen Hardcore-Band schlicht “Renounce Judaism” hieß.

Mit der Gründung eines jüdischen Staates entdeckten die Anarchist*innen des Arbeiter*innenzionismus, dass die Operation gelungen und die behandelte Person gestorben war. Ähnlich wie für ihre Genoss*innen der Oktoberrevolution, der chinesischen Bewegung des 4. Mai und der von Maderos mexikanischem Aufstand, vielleicht auch die der Occupy-Bewegung von gestern, war ihre einzige Belohnung, dass sie als vergessene Akteur*innen an der Geburt eines Gebildes beteiligt waren, das sie für irrelevant hielten.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die darauf folgende Einwanderung weiterer europäischer Jüd*innen, darunter auch einige Anarchist*innen, in den neu gegründeten israelischen Staat verstärkte die Spannung zwischen dem Politischen und dem Sozialen, zwischen frei gewählten und angeborenen Identitäten, zwischen “anarchistisch” und “jüdisch” - eine Spannung, die natürlich nirgendwo kritischer ist als innerhalb der Grenzen eines jüdischen Archos.

Aus den polnischen Ghettos kommend, erwiesen sie sich als unwillig oder unfähig, das Ghetto aus ihrem eigenen emigrierten Selbst herauszulösen, und anstatt trotzig die schwarze Fahne zu hissen, igelten sie sich ein. Sie organisierten sich in historischen Gesellschaften, Kulturvereinen, philosophischen Diskussionszirkeln, literarischen Studiengruppen und kommunizierten hauptsächlich auf Jiddisch, eine Wahl, die seltsam an jenes andere geschlossene, schwarz gekleidete jüdische Milieu erinnert, das der Gesellschaft den Rücken zukehrt, die orthodoxen chassidischen Jüd*innen, und in krassem Gegensatz zu den früheren Anarchist*innen der Kibbuzim steht die Hebräisch sprachen. In den 50er und 60er Jahren gab es die Freedom Seekers Association, die wichtigste anarchistische Gruppe in Israel. Sie gab eine zweisprachige Monatszeitschrift mit dem Titel Probleme heraus, führte eine Bibliothek mit klassischer anarchistischer Literatur (hauptsächlich auf Jiddisch und Polnisch) und unterhielt einen großen Saal im Zentrum von Tel Aviv, der Hunderte von Teilnehmenden zu harmlosen Konferenzen anzog, auf denen Anarchie und chassidische Parabeln zu Tode theoretisiert wurden.

Natürlich gingen die introvertierten, in sich geschlossenen kulturellen Veranstaltungen auf Kosten von Agitation, Öffentlichkeitsarbeit und Organisation, was uns nur zu gut an gewisse Punkrock-Szenen erinnert. Es scheint damals nicht einmal den Versuch gegeben zu haben, eine politisch anarchistische Bewegung aufzubauen.

Eine Anekdote aus dieser Zeit illustriert es perfekt: Ein Shin Bet-Agent (der israelische Inlandsgeheimdienst) kam eines Tages zu einem anarchistischen Treffen. “Ich habe gehört, dass ihr über die möglichen Folgen eines Attentats auf den Ministerpräsidenten diskutiert habt”, sagte er besorgt.

“Ja, das haben wir”, antworteten sie, “aber wir haben über den polnischen Ministerpräsidenten gesprochen. Der Agent ging, und sie wurden nie wieder belästigt.

Ich sollte anmerken, dass zu dieser Zeit an der Front des Nahen Ostens nicht alles so ruhig war. Der berühmte Streik der Seeleute zum Beispiel, der radikalste und gewaltsamste in der Geschichte Israels, der den einzigen Handelshafen des Landes 40 Tage lang lahmlegte, fand 1951 statt. Er wurde übrigens von einem jungen Matrosen angeführt, dessen Enkel ab den 1990er Jahren zu einem der wichtigsten Organisatoren des israelischen Anarchismus werden sollte. 1962 gab es, durch die Abwertung des israelischen Pfunds, eine Reihe wilder Streiks. Während all dem kam es auch zu ernsthaften Unruhen gegen ethnische Diskriminierung, angeführt von Jüd*innen aus Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas, die in Ma’abarot, den Flüchtlingsaufnahmelagern, lebten. Im Jahr 1949 zertrümmerte eine wütende Menge die Fenster des provisorischen israelischen Parlamentsgebäudes und riss die Türen aus den Angeln. Ein Jahr später wurde ein Anführer ähnlicher Proteste jemenitischer Jüd*innen als erster Bürger durch eine Kugel der israelischen Polizei getötet. Ganz zu schweigen von den verschiedenen Formen des Widerstands, in die palästinensische Araber*innen zu jener Zeit involviert waren.

Soweit ich weiß, gab es keine Beteiligung oder materielle Unterstützung seitens der israelischen Exilanarchist*innen, die anscheinend mehr mit den jiddischen Arbeiter*innenkämpfen in der New Yorker Lower East Side zu tun hatten als mit denen ihrer neuen Umgebung.

Abgesehen von Zionismus und Judentum war ein weiteres zentrales Thema, bei dem die Anarchist*innen der 90er Jahre mit der alten Garde brachen, unsere blasphemische Haltung gegenüber den IDF, den israelischen “Verteidigungs”-Kräften. Der anarchosyndikalistische amerikanische Maler Sam Dolgoff, der Israel Anfang der 70er Jahre besuchte, fasste die vorherrschende Haltung der Älteren (und offenbar auch seine eigene) so zusammen:

“…Die israelischen Genoss*innen sind gezwungen, auch die Tatsache zu akzeptieren, dass Israel verteidigt werden muss. […] In Diskussionen mit israelischen Anarchist*innen wurde betont, dass die einseitige Zerschlagung des israelischen Staates keineswegs anarchistisch wäre. Im Gegenteil, sie würde die immense Macht der arabischen Staaten nur stärken und ihre Pläne zur Eroberung Israels sogar noch beschleunigen. […] die Notwendigkeit der Verteidigung Israels, die von unseren Genoss*innen freilich anerkannt wird, hängt davon ab, dass die unabdingbaren militärischen, wirtschaftlichen, gesetzgeberischen und sozialen Maßnahmen ergriffen werden, die notwendig sind, um Israel in einem ständigen Zustand der Kriegsvorbereitung zu halten. Die israelischen Anarchist*innen […] wissen nur zu gut, dass die Beschneidung der Macht des Staates unter solchen Umständen keine echte Alternative darstellt.”

Als ein Anarch@-Punk-Kollektiv 1996 mit einer Anti-IDF-Ausgabe seines Fanzines “War of Words” eine Kontroverse auslöste, wurden sie von Joseph Luden, dem verstorbenen Herausgeber der oben erwähnten “Probleme” und Autor des Buches “A Short History of the Anarchist Idea” scharf kritisiert. Er brachte seine tiefe Enttäuschung zum Ausdruck und bestand darauf, dass die Streitkräfte “nicht der Feind” seien. Für uns zeigte dies, dass die jüdische Urangst vor dem Pogrom, vor Rom, vor den Kreuzrittern oder den Kosaken, vor den Arabern, die nur darauf warten, uns im Schlaf auszurauben, stark genug ist, um das Urteilsvermögen selbst lebenslanger Anarchist*innen zu vernebeln, wie andere kulturelle Gifte, die wir mit der Muttermilch aufnehmen und nie ganz aus unserem System bekommen.

Selbstverständlich sind Angriffe auf die Existenz des Militärapparats selbst - und nicht nur auf seine Präsenz - zu einem häufigeren Merkmal des israelischen Radikalismus geworden, seit die Zahl der palästinensischen Todesopfer schwindelerregende Höhen erreicht hat. Praktisch alle unsere damaligen radikalen Gesinnungsgenoss*innen, wenn sie nicht gerade mit Themen wie dem damals beliebten und äußerst sicheren Thema “religiöser Zwang” beschäftigt waren, unterschieden eisern zwischen dem militärischen Einsatz innerhalb der Grünen Linie, (den faktischen Grenzen Israels) den sie als moralische Verpflichtung betrachteten und dem Einsatz von Truppen außerhalb dieser Linie in den besetzten palästinensischen Gebieten, den wir ihrer Meinung nach strategisch ablehnen und für den Kampf gegen ihn auch ins Gefängnis gehen sollten. Sogar antizionistische, trotzkistische Splittergruppen und Ableger, die im Grunde im selben Boot saßen wie wir, ermutigten ihre Leute, in die Armee einzutreten, wenn auch mit dem Ziel, einen besseren Kontakt zu Durchschnittsisraelis herzustellen.

Die Generation israelischer Anarchist*innen der 1990er Jahre war in der Lage, etwas ganz Neues zu schaffen, und das taten wir. Auf den ersten Blick könnte mensch es vielleicht als oppositionelle Trotzhaltung oder Revolution aus Spaß diagnostizieren: ein kollektiver Stinkefinger gegen die Armee ohne Plan, Analyse oder Konzept, sie zu ersetzen. Selbstverständlich missbilligten “Seriöse” Revolutionär*innen das. Im Nachhinein denke ich aber, dass das Herausgreifen des Militarismus einen guten Instinkt bewiesen hat, ein feines Gespür für die sich verändernde Natur eines wichtigen Schlachtfeldes, eines Schlachtfeldes, das sowohl in symbolischer als auch in praktischer Hinsicht äußerst wichtig war und ist.

Außerdem zeigte es, dass wir genug wussten, um unseren unmittelbaren Erfahrungen zu vertrauen und uns von ihnen bei unseren Entscheidungen leiten zu lassen. Wir waren alle in einem Alter, in dem der Versuch des Staates, uns zum israelischen Militärdienst zu zwingen und die Narben, die wir in diesem Kampf erlitten hatten, noch frisch waren.

Um es klar zu sagen, ich möchte nicht als übermäßig kritisch gegenüber den älteren Generationen israelischer Anarchist*innen erscheinen. Sie waren extrem gut, in vielen Dingen, nur nicht besonders gut darin, Anarchist*innen zu sein, oder besser gesagt, anarchistisch zu sein, darin, die Projekte zu erkennen und zu priorisieren, die exklusiv für anarchistisches Denken sind und die keine*r sonst anbieten kann. In einem Land, in dem vor nicht allzu langer Zeit alle politischen Gruppierungen - links, rechts und mittig - als radikale Subversive begannen, sollte “Anarchist*in” vielleicht eher Rebell*in als Revolutionär*in bedeuten. Trotzdem habe ich großen Respekt vor der alten Schule.

Wie ist der israelische Anarchismus mit dem gegenkulturellen Aufschwung der frühen 90er Jahre entstanden oder daraus hervorgegangen? Welche Merkmale aus dieser Zeit hat er beibehalten? Was sind ihre Vor- und Nachteile?

Auch wenn ich selbst sowohl in den Anarchismus der 90er Jahre als auch in die israelische Gegenkultur jener Zeit involviert war, bin ich mir nicht sicher, ob der moderne israelische Anarchismus aus der Punk-Explosion hervorgegangen ist, wie es in anderen Ländern während dieses Jahrzehnts der Fall war, oder ob beide gleichermaßen Kinder des Zeitgeistes waren.

Ich denke, das sollten wir den Sozialhistoriker*innen überlassen, oder vielleicht den Physiker*innen, denn Newtons drittes Gesetz besagt eindeutig, dass alle Kräfte Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Körpern sind.

Apropos Physik: Wenn die Natur das Vakuum wirklich hasst, dann muss sie in den 90er Jahren ziemlich sauer auf uns gewesen sein. Die erste palästinensische Intifada hatte nach drei langen Jahren an Schwung und Richtung verloren und endete im Wesentlichen mit der Madrider Konferenz 1991 (wenn auch offiziell erst mit den Osloer Verträgen 1993). Diese Zeit bis zur Ermordung von Premierminister Jitzchak Rabin Ende 1995 und dem Wahlsieg der Rechten ein halbes Jahr später war in der Linken von einem starken Gefühl der Euphorie und des Optimismus geprägt: Das erhebende Gefühl, dass der Frieden, der immer schwer zu erreichen war, nun in greifbarer Nähe lag, nur einen Vertrag entfernt. Die Radikalen - einschließlich der Anarchist*innen, mit Ausnahme einer einzigen Person, wenn ich mich richtig an unsere Treffen erinnere, waren völlig vom sogenannten Friedensprozess vereinnahmt und akzeptierten ihn als einzig möglichen Weg.

Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen war der Widerstand der Fatah gegen den Prozess zusammengebrochen, und die palästinensische Gesellschaft schien ihn voll und ganz zu akzeptieren, so dass wir zögerten, “katholischer als der Papst” zu wirken. Zweitens verleitete uns die erbitterte Ablehnung der Rechten zu der Annahme, dass es sich im Großen und Ganzen um einen positiven Prozess handeln würde. Lektion gelernt: Wähle niemals einen politischen Weg auf Grundlage der Frage, wer ihn ablehnt.

Unser getrübtes Urteilsvermögen bescherte uns allerdings an anderer Stelle auch einen Lichtblick. Dadurch, dass der Frieden auf der Liste der brennendsten Probleme ein paar Plätze nach unten gerutscht war, rückten andere Themen nach oben, in das Vakuum wurden unbekannte Konzepte gesaugt, die neue Wege zur Lösung alter Probleme aufscheinen ließen. Und weil Menschen nicht eindimensional sind, gingen die politischen Veränderungen mit kulturellen einher: Radikale Ökologie und Tierbefreiung zum Beispiel, die bis dahin unbekannt waren, traten neben eine neue Gegenkultur des Krachs, der Zines, der Straßenkunst, der internationalen Kontakte, der Do-it-yourself-Ethik, der Wohngemeinschaften, der Infoläden, der unabhängigen Medien, der themenübergreifenden Bündnisse und aktivistischen Praktiken. Anarchie explizit oder implizit, aber immer verbündet, stand im Zentrum.

Punk ist ein guter Bezugspunkt, obwohl diese gegenkulturelle Welle ästhetisch vielfältiger und breiter war. Im Gegensatz zu dem, was viele annehmen, war der Einfluss des Punk schon in der israelischen Subkultur der späten 1970er Jahre spürbar. In den 80er Jahren gründeten sich israelische Punk-Bands, gaben Konzerte und veröffentlichten Demotapes. Das Konzept einer “Szene” als soziale Einheit gab es damals aber noch nicht. Punk blieb außerhalb der kulturellen Identität, und so blieben die Punks atomisiert und zersplittert, verbunden vorwiegend durch genau diese Trennung, die, wie ich vermute, dazu gehörte, wie sie dachten, dass sich Punk “anfühlen” sollte.

Auch gab es in den 70er und 80er Jahren eine Handvoll Anarchist*innen, etwas, das ich bei der Beantwortung der vorangegangenen Frage nur gestreift habe, aber sie schafften es nicht, über ihre Charakterisierung als isolierte Außenseiter*innen hinauszukommen. Tatsächlich war diese Charakterisierung meist selbst auferlegt. 1973, am Vorabend des Jom-Kippur-Krieges, brachte beispielsweise eine Drei-Mensch-Kommune, die sich The Black Front - Freaky Anarchist Group nannte, eine humorvolle, einmalige Publikation mit starken Einflüssen von R. Crumb- heraus, Freaky, während in den 80er Jahren drei israelisch-palästinensische Brüder NILAHEM “Youth for Liberty and Struggle”, eine kleine anarchistische Gruppe in der nördlichen Stadt Haifa gründeten. Einer dieser Brüder, unser Compañero Juliano Mer-Khamis, wurde im vergangenen Jahr von einem maskierten Bewaffneten im Geflüchtetenlager Jenin ermordet.

1973 Veröffentlichung der Schwarzen Front, Freaky Anarchist Group.

Erst in den 90er Jahren gab es ein bewusstes Bemühen, die anarchistische Praxis zu erweitern, indem man sie weiter in die Richtung von group—>organization—>network—>movement vorantrieb. In einem herzerwärmenden Fall von Quanten-Wunschdenken - oder war es ein Versuch, den Feind zu verwirren? - hatte die wichtigste anarchistische Gruppe der frühen 1990er Jahre keinen formellen Namen und nannte sich einfach “Anarchist Movement”.

Wie ein Chiasmus im wirklichen Leben entlehnte der Punk der 90er Jahre von den Anarchist*innen die autonome Selbstorganisation, die Do-it-yourself-Szene, während die Anarchist*innen der 90er Jahre vom Punk das Chromosom der Expansion, der Ausbreitung durch ein kulturelles Gefühl der Dringlichkeit übernahmen. Mit einer Logik wie “Bau deine Träume und die Menschen werden kommen” heilten alle einander von ihrem jeweiligen Wahn der Kleinheit. Und selbstverständlich bestärkten sie sich gegenseitig in der Vorstellung, dass mensch sich einen Dreck um Regeln scheren muß.

Die Frage, welche Eigenschaften der heutige israelische Anarchismus aus den 90er Jahren beibehalten hat, ist interessant, aber eine dringlichere Frage wäre, welche Eigenschaften er verloren hat. In vier Worten: Das Element der Überraschung.

In den frühen 90er Jahren versuchten wir unser Bestes, um zu vermeiden, “radikal links” zu werden, gefangen an diesem oder jenem Rand des politischen Spektrums, wo wir nur in der Mitte enden konnten; stattdessen haben wir uns dort nicht eingefügt. Unser natürlicher Lebensraum war zwar die Linke, die Progressiven, die “blutenden Herzen”, das Friedenslager, aber wir bewegten uns darin wie eine Art neues und wildes exotisches Tier. Wir setzten uns aus Post-Linken und Ex-Linken zusammen, aber wir waren uns alle einig, dass wir Anarchie nicht auf die Konjugation eines linken Verbs reduzieren wollten. Einige steckten uns in die Schublade einer anderen Art von Kommunist*innen, während andere unsere Unkonventionalität so verstanden, dass wir denen, die ihr Leben letztlich als konventionell sahen, nichts Relevantes zu bieten hätten. Aber viele, vor allem junge Menschen, waren fasziniert und offen für neue Botschaften. Das hat sich in den 2000er Jahren wieder geändert.

Um 2003, während der Ebbe der zweiten Intifada - mensch könnte sagen, parallel, aber an ihrer Unterseite - entbrannte ein Kampf gegen die israelische Mauer, der sich als eine Art andere, dritte Intifada betrachten lässt. Er begann - und wütet immer noch - in einer Handvoll kleiner Dörfer im Westjordanland, deren Ländereien konfisziert wurden, entweder um die Mauer zu bauen oder um die immer größer werdenden jüdischen Siedlungen zu mästen. Fast sofort erkannten israelische Anarchist*innen, dass unsere Position als Israelis, gepaart mit unserer speziellen Art der konfrontativen Praxis, einen wichtigen Beitrag leisten könnte, und so wurde Anarchists Against the Wall geboren.

Es war ein kalkuliertes Spiel. In vielerlei Hinsicht hat es sich gelohnt, aber die extreme Intensität dieses besonderen Kampfes machte es absehbar und unvermeidlich, dass alle anderen Bereiche unserer Politik von ihm in den Schatten gestellt werden würden, und genau das ist passiert. Bald wurde “Anarchist*in” zum Synonym für eine Sache und nur für eine Sache - die palästinensische - durch eine polarisierende Dynamik, von der wir wussten, dass wir ihr nicht entkommen würden. Die Möglichkeit sich mit dem Staat in einen gewalttätigen, blutigen und aufgeladenen Konflikt zu verwickeln und das nicht in einem idealen Umfeld für Antinationalist*innen, ging auf Kosten unserer Wirksamkeit in praktisch allen anderen Bereichen. Wir waren, wenn mensch so will, gezwungen, uns zwischen einer attraktiven Perspektive für die israelische Öffentlichkeit und einer bedrohlichen für den israelischen Staat zu entscheiden; es ist uns nicht gelungen, beides unter einen Hut zu bekommen.

Die Rückseite der Ausgabe 4 des ersten israelischen Punk-Fanzines, Necrophilia for Youth, das 1994 veröffentlicht wurde; der Text lautet “No Government Can Offer You Liberty”.

Cover Titelseite der Ausgabe 4 der Zeitung The War of Words, die 1996 vom Isra-hell-Kollektiv herausgegeben wurde und über Punk, Tierbefreiung und Kriegsdienstverweigerung berichtet; auf dem Banner steht “Keine Kapitulation vor dem politischen Terror”.

Welche anderen Initiativen entstanden neben Anarchists Against the Wall in dieser Zeit? Beschreib zum Beispiel die Ursprünge und den Werdegang der heutigen Tierbefreiungsbewegung in Israel.

Ich denke, der interessanteste Teil der israelischen Tierbefreiungsbewegung und sicherlich der für Radikale relevanteste, sind ihre Anfänge. Ich will sie nicht überbewerten, aber sie war eine der wenigen echten strukturellen anarchistischen Verschwörungen, von denen ich in den letzten 140 Jahren weiß, und eine weitsichtige noch dazu. Und sie hat funktioniert, vielleicht zu gut.

Wenn ich von echten anarchistischen Verschwörungen spreche, bin ich selbstverständlich vorsichtig, denn die Strafverfolgungsbehörden neigen dazu, falsche Verschwörungen heraufzubeschwören, sei es in Bologna, Moskau, Cleveland oder im französischen Dorf Tarnac. Doch diese war eine Verschwörung ganz anderer Art.

Das Konzept der Tierbefreiung kam in Israel erst spät auf, Anfang der 90er Jahre, und zwar durch Anarchist*innen. Seit ‘83 gab es eine Anti-Tierversuchsgesellschaft, aber sie war in der wissenschaftlichen Sichtweise gefangen und scheute sich davor, weitergehende Schlüsse aus ihren eigenen ethischen Bedenken zu ziehen. Um zu zeigen, wie spät die Dinge hier in Gang gekommen sind: Das erste hebräische Buch über Tierversuche erschien ‘91, das erste Gesetz, das das Thema auch nur erwähnt, wurde ‘94 verabschiedet, und eine Übersetzung von Peter Singers Animal Liberation erschien erst ‘98.

Wie erwähnt, hatten Anfang der 1990er Jahre neue Perspektiven Vorrang vor einer auf Palästina ausgerichteten Politik, eine Tendenz, die sich mit Beginn des neuen Jahrtausends ziemlich heftig umkehrte. Weil wir Anarchist*innen nichts unversucht ließen, um neue Wege zu finden, unseren Einfluss auf die Gesellschaft zu verstärken, kamen einige zu dem Schluss, dass es effektiver wäre, den Anarchismus durch das Prisma eines einzelnen Themas zu präsentieren, anstatt ihn als Gesamtpaket zu propagieren. Und so begannen ständige Diskussionen, formell und informell, in sonnenüberfluteten öffentlichen Parks ebenso wie in schlecht bewachten Highschoolunterkünften um Mitternacht, die sich alle auf eine einzige Frage konzentrierten: Welches Thema könnte den stabilsten Türöffner darstellen, über den sich das breiteste Spektrum radikaler Ideen verbreiten ließe?

Einige unternahmen kurze taktische Vorstöße in das Terrain der nuklearen Abrüstung, Israels tabuisiertes Staatsgeheimnis und der sozialen Ökologie mit der Gruppe Green Action, aber letztendlich wurde uns klar, dass ein neuer und unverdorbener Klumpen Lehm gebraucht wurde. Und nichts eignete sich besser als das bis dahin unbekannte, scheinbar sichere Konzept für Robben oder Elefanten zu kämpfen, Pelzgeschäfte und Zirkusse waren die ersten beiden großen Themen lokaler Tierbefreiungskampagnen.

Diese Verschiebung des Schwerpunkts war bewusst und gewollt, sollte aber nicht als manipulativer Trick oder zynisches “Der Mann, der Donnerstag war“-Getue verstanden werden. Abgesehen von taktischen Überlegungen waren wir ja tatsächlich aufrichtig leidenschaftlich daran interessiert, nichtmenschlichem Leiden ein Ende zu setzen, die anderen Motive waren ein zusätzlicher Bonus, die Erkenntnis, dass von all den verschiedenen Ungerechtigkeiten, gegen die wir uns zu dieser Zeit und an diesem Ort organisieren konnten, Tierausbeutung zufällig die geeignetste war.

Unsere erste Gruppe hieß schlicht und einfach Anonymous, ein seltsamer, etwas dunkler Name für eine Tierrechtsorganisation, es sei denn, mensch bedenkt, dass es sich um eine Art anarchistische Front handelte. Neben dem Ziel, junge Tierfreund*innen zu radikalisieren, die sich ihr anschließen könnten, verfolgte sie ein weiteres, praktischeres Ziel: die Rekrutierung von Leuten für geheime Aktivitäten der Animal Liberation Front. Das kleine Hauptquartier von Anonymous, das bis zum Rand mit Informationen über verschiedene radikale Kämpfe, nichtmenschlicher und menschlicher Art, gefüllt war, war auch der nächtliche Treffpunkt für fast alle ALF-Aktivitäten in Tel Aviv während dieser Zeit; es befand sich sogar praktischerweise in der Ben Yehuda Straße, derselben Straße, in der sich die meisten Kürschner der Stadt niedergelassen hatten! Laut den Vernehmungsbeamten der benachbarten Dizengoff-Polizeistation waren es zumindest Anonymous-Aktivist*innen, die israelische Ladenbesitzer*innen (und Polizist*innen) mit den Sekundenkleberschlössern vertraut machten.

Das Logo von Anonymous für Tierrechte.

Heute ist Anonymous for Animal Rights, wie sich die Organisation inzwischen nennt, das israelische Äquivalent zu PETA, der größten und bekanntesten Mainstream-Organisation in diesem Bereich, mit Lobbyist*innen und reformorientierten Verbraucher*innenkampagnen. Dies war das Ergebnis eines allmählichen Zustroms von Aktivist*innen, die nicht in den ursprünglichen Plan eingeweiht waren, von Menschen, deren gesamtes Spektrum wirklich mit Tierrechten begann und endete. Sobald genug von ihnen in der Kerngruppe waren, begannen unvermeidliche Machtkämpfe und interne Auseinandersetzungen, die die Anarchist*innen dazu brachten, zu akzeptieren, dass ihre Arbeit getan war - aus der Holzpuppe war ein echter Junge geworden. Es war an der Zeit, andere Wege zu gehen.

Selbstverständlich ist es keine nachhaltige Strategie für radikale Aktivist*innen gleichzeitig oben und im Untergrund zu arbeiten, um es ganz vorsichtig zu sagen. Aber wie sich in diesen Jahren zeigte, ist es möglich, wenn die Gruppe klein genug ist, ihre Koordinaten kennt und die politische Landkarte genau liest. Dann hat es auch seine Vorteile: Irgendwann in der Mitte dieser Zeit verteilte ich zum Beispiel selbstgemachte Sticker, die dazu aufriefen, jüdischen Siedelnden in den Kopf zu schießen und die mit einem eingekreisten A unterschrieben waren. Die damals größte israelische Zeitung machte den Fehler zu berichten, dass das Symbol für Anonymous stand, und so verklagten wir sie selbstverständlich wegen Verleumdung und einigten uns außergerichtlich auf eine saftige Summe, die unsere politischen Aktivitäten noch eine Weile finanzierte. Wer sagt denn, dass mensch immer nur einen Hut tragen kann, oder?

Ein letzter Punkt in Bezug auf die Entwicklung ist der elegante Tanz der zyklischen Synergie zwischen Anarchismus und Tierbefreiung. Ich bin mir nicht sicher, wie bekannt das außerhalb Israels ist, aber so wie die Tierbefreiungsbewegung von Anarchist*innen ins Leben gerufen wurde, wurde Anarchists Against the Wall wiederum von Tierbefreiungsaktivist*innen konzipiert, zwei Trägerwellen in kleinen kongruenten Kreisen, die gut in den dialektischen Materialismus der wissenschaftlichen Sozialist*innen passen würden, wenn wir mit “wissenschaftlich” die Chaostheorie meinen.

One Struggle war eine veganarchistische Gruppe, die um 2002 von einigen der Menschen gegründet wurde, die Anonymous bei der erwähnten Spaltung verlassen hatten. Obwohl es ihr erklärtes Ziel war, antispeziesistische Agitation aus einer antiautoritären Perspektive zu betreiben, gelang es ihr vor allem antispeziesistische Perspektiven in die antiautoritäre Agitation einzubringen.

Ende 2003 nahmen Aktivist*innen von One Struggle zusammen mit Palästinenser*innen an einem Versuch teil, eines der Tore der Trennmauer in der Nähe des Dorfes Mas’ha im Westjordanland, vier Meilen von der Grünen Linie entfernt, zu demontieren. Wie bei früheren Aktionen von One Struggle war die begleitende Pressemitteilung mit einem fiktiven Namen unterzeichnet, der in letzter Minute zufällig ausgesucht wurde: In diesem Fall “Anarchists Against the Wall” (Anarchist*innen gegen die Mauer). Israelische Soldat*innen reagierten während der Aktion, die übrigens erfolgreich verlief, mit dem Einsatz scharfer Munition und verletzten einen Aktivisten schwer; es war das erste Mal überhaupt, dass die israelische Armee das Feuer auf jüdische Bürger*innen eröffnete. In der Hitze des darauf folgenden Medienrummels prägte sich der Name “Anarchists against the Wall” (manchmal auch als “Anarchists against Barriers”) unauslöschlich in das öffentliche Bewusstsein ein. Ein paar Jahre später, als One Struggle seine historische Rolle erfüllt hatte, löste er sich auf, aber AAtW machte mit voller Kraft weiter.

Genoss*innen, die Israel besuchen, sind oft überrascht, wie weit verbreitet der antispeziesistische Diskurs unter den lokalen Anarchist*innen ist. Tatsächlich brauchten sogar israelische Radikale der nicht-anarchistischen Sorte ein paar gute Jahre, um sich anzupassen. Als Ta’ayush (eine radikale israelische Organisation) beispielsweise versuchte, den Wiederaufbau der von israelischen Soldat*innen zerstörten Legebatterien im Dorf Hirbet Jbara zu organisieren, stieß dies auf den erbitterten Widerstand von Anarchist*innen; dasselbe geschah, als Gush Shalom eine Solidaritätsaktion mit den Fischern im Gazastreifen organisierte. Der historische Kontext dazu wurde in den vorangegangenen Abschnitten beleuchtet.

Welche Dynamik gab es zwischen diesen Kampagnen und den Anarchist*innen gegen die Mauer, als diese den israelischen Anarchismus zu bestimmen begannen?

Wenn mensch über die heutigen israelischen Anarchist*innen spricht, ist es wichtig zu beachten, dass es nicht um Tausende oder Hunderte von Menschen geht, sondern um Dutzende. Begriffe wie “Bewegung”, “Merkmale”, “Dynamik” oder “Srömungen” sollten darum auf eine fast intrapersonelle Größe heruntergeschraubt werden. Ganz ehrlich, zwei Mitbewohner*innen und ein kleiner drahtloser Router können hier zu einer anarchistischen Strömung werden, im Guten wie im Schlechten.

Was die Frage betrifft: Wie ich bereits beklagt habe - und trotz seiner entscheidenden Beiträge, hat uns AAtW wieder in den binären Links/Rechts-Code zurückgeschrieben, der das politische Spektrum Israels definiert und begrenzt, das gleiche Spektrum, dem wir ein Jahrzehnt davor zu entkommen versucht hatten. Seitdem sind wir “weit links”, und es ist nicht überraschend, dass das unseren Handlungsspielraum in anderen Bereichen eingeschränkt hat. Zusätzlich wurde diese Binarisierung verschluckt und verinnerlicht, was unseren politischen Stoffwechsel verlangsamte, weil wir alles und alle, deren Namen nicht klar in der Sprache der Links/Rechts-, Zionismus/Intifada-Dichotomie ausgesprochen wurde, mehr und mehr ablehnten. Auch One Struggle war zeitweise ein gutes Beispiel dafür, genau wie Black Laundry, eine anarchistische LGBTQ-Gruppe, die etwa zur gleichen Zeit begann, unter dem Slogan “There is no pride in the occupation” gegen Gay-Pride-Veranstaltungen zu protestieren.

Als AAtW an Schwung gewann, wurde zum Beispiel die bloße Teilnahme an radikalen Queer-Aktionen, ohne die Besetzung zu erwähnen, zum “Pinkwashing”. Als das 9. internationale Queeruption-Treffen, das 2006 in Tel Aviv stattfand, mit Israels schwersten Bombenangriffen auf den Libanon seit 24 Jahren - auch als Zweiter Libanonkrieg bekannt - und den jährlichen WorldPride-Veranstaltungen, die in Jerusalem stattfinden sollten (aber später abgesagt wurden), zusammenfiel, kam es zu heftigen Spannungen bei einer Anti-Homophobie- und Anti-Militarismus-Demonstration in Jerusalem; mehr dazu ist im Queeruption Fanzine nachzulesen, insbesondere über die Auseinandersetzung “You Can Call Me Gay”/”You Can Call Me An Anarchist”.

Allgemein hatte ich das Gefühl, dass das Versäumnis, alles explizit und unablässig mit der palästinensischen Frage zu verknüpfen, als eine Unterlassungssünde gesehen wurde als hätten alle anderen Kämpfe ihren Eigenwert verloren. In gewisser Weise war dies eine Neuauflage der Fehler, die die Neue Linke in all ihrer marxistisch-leninistischen Pracht beging, als sie jeden Kampf mit Ausnahme der Befreiung der Dritten Welt und der Schwarzen auf einen zweitrangigen Status herabstufte. Im Gegensatz zu den Radikalen der 1960er Jahre gaben wir jedoch nicht vor, wissenschaftlichen Gesellschaftsanalysen zu folgen, so dass unsere strikte Prioritätensetzung informell war und selten artikuliert oder gar anerkannt wurde, ein Ergebnis von Gruppendynamik und politischen Definitionen, in denen Aktion Re-Aktion bedeutete. Wenn mensch immer nur reagiert, anstatt zu initiieren, besteht selbstverständlich ein höheres Risiko, die Prioritäten des Staates statt der eigenen Herzenswünsche widerszuspiegeln.

Die Bereitschaft, Kämpfe zu verbinden, sie unter einen Hut zu bringen, ist bei uns immer noch weit verbreitet. Die Proteste in den Zelten der sozialen Gerechtigkeit, die Israel im Sommer 2011 erfassten, waren eine lokale Version der Occupy-Bewegung, die weitgehend vom Arabischen Frühling inspiriert war. Die an ihnen teilnehmenden Anarchist*innen hatten als einziges Ziel die nationale, palästinensische Sache durchzusetzen und waren vorsätzlich blind für die unzähligen anderen Möglichkeiten, die die Proteste für uns eröffneten. Während Zehntausende einfacher Menschen mit einem breiten, hohen Banner auf dem stand “Wenn die Regierung gegen das Volk ist, ist das Volk gegen die Regierung” durch das Herz der weißen Stadt Tel Aviv zogen, beschränkten sich die Anarchist*innen darauf, vom Rand aus Anti-Besatzungs-Plakate zu schwenken und die Botschaft zu vermitteln, dass nichts, nicht einmal echter Volksprotest irgendeinen Wert hat, wenn er nicht das Westjordanland und den Gazastreifen wie Würgeschlangen um sich herum trägt. Bei den Protesten für soziale Gerechtigkeit im Jahr 2012 sah es mit den Anarchist*innen nicht anders aus.

Versuche, diese Tendenz zu identifizieren und damit AAtW als eine Manifestation einer verfeinerten politischen Prioritätensetzung zu erkennen, endeten in der Regel in emotionalen und personalisierten Darstellungen, die bestenfalls die halbe Wirklichkeit zeigten. Es stimmt, dass diese Zeiten für uns persönlich sehr anstrengend waren und dass der palästinensische Kampf damals wie heute mit hochgradig aufgeladenen Situationen verbunden ist, die so stark brennen, dass sie fast alles andere verdunkeln, wenn mensch sie lässt. Aber es ist auch eine abstraktere, gedankliche Komponente im Spiel.

Anarchist*innen verwenden oft theoretische Rahmen, die alles als miteinander verwoben und gleich wichtig erscheinen lassen, um zu vermeiden, ihre Prioritäten in Bezug auf Kämpfe und Themen offen auf den Tisch zu legen. Da wir sowohl Formeln als auch Hierarchien ablehnen - ganz zu schweigen von formelhaften Hierarchien! - neigen wir zu integrativen, umschreibenden politische Perspektiven, in denen die ständige Bekräftigung von Gemeinsamkeiten das berüchtigte Bedürfnis von Revolutionär*innen übertrumpft, ein Hauptproblem, einen Hauptwiderspruch zu identifizieren. Trotz unserer absichtlichen Unbestimmtheit setzen wir aber alle Prioritäten in unseren Kämpfen, nur unsere Selbsterkenntnis dabei ist unterschiedlich. Wie bei der Heuchelei ist der einzige sichere Weg, dies zu vermeiden, zu Hause zu sitzen und nichts zu tun. Die wichtige Frage ist also nicht, ob wir Kämpfe priorisieren, sondern nach welchen Kriterien wir das tun. Geographie? Geschichte? Moral? Massenpsychologie? Und wie fassen wir eine solche Priorisierung - die per Definition ein Prozess der Schichtung ist, in Begriffe, um sie mit konkreter, alltäglicher anarchistischer Politik vereinbar zu machen?

Es scheint mir, dass der falsche Weg, es zu tun, die Trägheit ist, die Dinge von vorneherein laufen zu lassen, wie sie eben laufen. Wie die Strukturen sind auch die Prioritäten am gefährlichsten, wenn sie unsichtbar sind. Und das führt uns zurück zum Beispiel von Anarchists Against the Wall.

“Return Serve”, ein Foto von Hamde Abu Rahma, aus einer Kunstausstellung 2013 zugunsten von Anarchists Against the Wall.

AAtW verdanken die Stärke ihrer taktischen Diktion - ich würde sagen, ihrer bloßen Existenz - der unausgesprochenen Vorstellung, dass die palästinensische Frage die allgemeine Krise der israelischen Gesellschaft kristallisiert, dass dieser nationale Konflikt die wichtigste seismische Verwerfungslinie ist. Soweit ich weiß und mich erinnern kann, gab es von unserer Seite keine konzertierten Bemühungen, einen Schritt zurückzutreten und die Überlegungen zu hinterfragen, die diese Vorstellung als selbstverständliche Wahrheit salbten. Aus welchem Blickwinkel betrachtet, kristallisiert sich in dieser Frage die allgemeine Krise heraus? Aus welcher Perspektive ist diese Frage die wichtigste seismische Verwerfungslinie?

Wir wissen, dass Politiker*innen, ihre Medien und das Phantasma, das sie “den Mainstream” nennen, alle an dieser Vorstellung festhalten und eifrig daran arbeiten, sie durchzusetzen, obwohl ihre Kriterien kaum jemals sachlich diskutiert werden. Es kann nicht die Zahl der Toten sein, wenn zum Beispiel jedes Jahr mehr als tausend Israelis an den Folgen der Umweltverschmutzung sterben und Autounfälle in der gesamten Zeit der Existenz des Landes mehr Todesopfer gefordert haben als alle Kriege zusammen; es kann nicht das Ausmaß des zugefügten Leids sein, sofern sich das überhaupt sinnvoll quantifizieren lässt, wenn fast 200.000 israelische Frauen* jedes Jahr misshandelt werden. Nein, die Frage, die wir uns stattdessen stellen sollten, ist einfach und doch tiefgreifend: cui bono? Wer profitiert am meisten davon, dass wir einen bewaffneten, territorialen Konflikt entlang ethnischer, religiöser und nationaler Linien als Zentrum der politischen Schwerkraft akzeptieren?

Ich gehe davon aus, dass die meisten Anarchist*innen die Antwort nicht vor Augen geführt bekommen müssen.

Und doch bleiben die politischen Prioritäten, die AAtW verkörpert, im Wesentlichen dieselben wie die, die der israelische Staat, seine Medien usw. propagieren. Nur sehr wenige israelische Anarchist*innen haben in den letzten zehn Jahren diese Prioritäten zugunsten von wirtschaftlichen, feministischen, migrantischen, ökologischen, Gender- oder nichtmenschlichen Kämpfen abgelehnt, um nur einige wenige Alternativen zu nennen.

In dem Adrenalinrausch, eine Opposition zu werden, hätten wir besser darauf achten sollen, nicht die Eigenschaften zu verlieren, die uns auch zu einer vollständigen, abgerundeten Alternative machen. In vielerlei Hinsicht haben die Umstände und ein Mangel an Analyse dazu geführt, dass AAtW zu einem umgekehrten oder zerbrochenen Spiegelbild des staatlichen Standpunkts geworden ist, anstatt etwas komplett anderes widerzuspiegeln. Das erklärt, warum es für uns so selbstverständlich ist, selbst mit den rassistischsten, misogynsten, homophobsten und intolerantesten religiösen Eifer*innen zusammenzuarbeiten, die der palästinensische Widerstand überhaupt zu bieten hat. Der Philosoph hatte recht, als er uns davor warnte, in den Abgrund zu blicken und betonte, dass alles, was bedingungslos ist, eine Pathologie ist - Solidarität eingeschlossen.

Ich gebe bereitwillig zu, dass diese ganze Diskussion über die Priorisierung von Kämpfen, ja sogar die Priorisierung von Kämpfen an sich, nur dazu dient, uns daran zu erinnern, was im Leben am wenigsten zählt: politischer Reduktionismus. Da die Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen, in umgekehrtem Verhältnis zur Anzahl der Aktivist*innen und der verfügbaren Ressourcen steht, können Anarchist*innen in Ländern mit größeren Bewegungen diese Probleme nicht nachvollziehen.

Weitere Fotos von Hamde Abu Rahma.

Welche Rolle hat die Rhetorik der Gewaltfreiheit bei Anarchists Against the Wall und allgemein im palästinensisch-israelischen Konflikt gespielt?

Die Rhetorik der Gewaltfreiheit funktioniert - oder besser gesagt, sie funktioniert nicht - überall auf der Welt gleich, so dass es wohl nicht nötig ist, auf die universellen Mängel des Ganzen einzugehen. Im Fall des palästinensischen Widerstands und der AAtW hat die Geschichte aber eine Wendung genommen: Es geht nicht mehr nur um Gewaltlosigkeit versus Gewalt, sondern um die Rhetorik der Gewaltlosigkeit, die vor allem von externen Kräften benutzt wird, um das Wasser zu trüben und den gewaltsamen Aspekt des palästinensischen Widerstands zu verschleiern, nicht nur seine Legitimität oder seinen Umfang oder seine Erfolge, sondern seine Existenz selbst, seine Definition als solche.

Aber ich greife mir selbst vor.

Obwohl sich diese Frage vermutlich auf die Gewaltlosigkeit als taktischen Ansatz bezieht und nicht auf ihre absolutistische, theosophische Variante, den Pazifismus, sollten wir der Klarheit halber mit Letzterem beginnen.

Es wird jetzt wahrscheinlich kein Schock sein, zu erfahren, dass Pazifist*innen in dieser Region etwa seit der Zeit der Essener keine nennenswerte Rolle mehr gespielt haben. Auf palästinensischer Seite kommen muslimische Menschen, die den Pazifismus befürworten, ausschließlich aus einem ganz bestimmten islamischen Kontext: der Sufi-Tradition oder der mystischen Tradition (ja, wie Hakim Bey). Der Sufismus wurde jedoch schon vor langer Zeit vom salafistischen/wahhabitischen Islam an den Rand der palästinensischen Gesellschaft gedrängt und im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich sein Einflussbereich hier auf einige vergessene Hochlandgräber und auf die Landschaft verstreute Bergheiligtümer reduziert. Einige palästinensische Christ*innen, die etwa 3% der unter Besatzung lebenden Menschen ausmachen, sind auch dafür bekannt, Pazifismus zu predigen, aber immer stark verwässert und letztlich von taktischen Argumenten überschattet. Dazu später mehr.

Was die israelische Seite betrifft, so wurden in den letzten drei Jahrzehnten, beginnend mit dem Libanonkrieg 1982 Hunderte von Menschen wegen Verweigerung des Militärdienstes inhaftiert, (die Standardstrafe beträgt 28 Tage) aber meines Wissens nach hat nur eine Person echten Pazifismus als Motivation angegeben; es war, etwas unerwartet, der Neffe von Premierminister Benjamin Netanjahu. Im Allgemeinen lassen sich Kriegsdienstverweigernde - oder “Refusniks”, wie sie hier genannt werden, in zwei Kategorien einteilen. Die konventionelleren Kriegsdienstverweigernden, die von den Organisationen Yesh Gvul und Courage to Refuse geprägt sind, sind ältere Reservist*innen und Offizier*innen, die eine selektive Verweigerung des Dienstes in den besetzten Gebieten befürworten, sich aber stark mit militaristischen und nationalistischen Diskursen identifizieren und diese aufrechterhalten, sie glauben sogar, dass gerade dieser glühende Patriotismus ihre kritische Stimme legitimiert. Jüngere Aktivist*innen, die von den Organisationen New Profile und Shministim (wörtlich “Zwölftklässler*innen”) representiert werden, betrachten jede militärische Position in der Armee als direkte oder indirekte Fortsetzung der Besatzung und verweigern aufgrund einer radikaleren und umfassenderen Kritik an den vorherrschenden zionistischen Erzählungen, am Militarismus und am männlichen Chauvinismus. New Profile ist explizit feministisch, im Gegensatz zu Yesh Gvul und Courage to Refuse, deren Mitglieder*innen fast ausschließlich männlich sind. Keine der beiden Gruppen weist deutliche pazifistische Züge auf.

Abgesehen von Kriegsdienstverweiger*innen oder pazifistischen Moralvorstellungen werden die Dinge ein wenig komplizierter, wo es um Gewaltlosigkeit als Strategie geht. Auch hier möchte ich mit der palästinensischen Seite beginnen.

Wie die meisten anderen nationalen Befreiungskämpfenden haben auch die Palästinenser*innen eine breite Palette gewaltfreier Taktiken gegen die eindringende zionistische Bewegung eingesetzt, sogar schon vor der Gründung Israels, als alle noch unter osmanischer und britischer Herrschaft standen. In den 1930er Jahren beispielsweise kam der lokale Handel durch Generalstreiks gegen die britische Zwangsregierung sechs Monate lang zum Stillstand.

Die erste Intifada brachte einige der denkwürdigsten Beispiele palästinensischer Gewaltlosigkeit hervor. In der christlich-palästinensischen Stadt Beit Sahour zum Beispiel führte eine Steuerrevolte gegen die israelische Besatzung dazu, dass die gesamte Stadt 44 Tage lang belagert wurde, was damit endete, dass israelische Soldat*innen einmarschierten und Waren im Wert von zwei Millionen Dollar aus Geschäften “beschlagnahmten” (plünderten). Aber auch während der zweiten Intifada, einem überwiegend gewalttätigen und militarisierten Aufstand, der durch Qassam-Raketen und Selbstmordattentate bekannt wurde, gab es zahlreiche Boykotte, Mahnwachen, Hungerstreiks, Massendemonstrationen, Proteste und Märsche, viele davon im Anschluss an die fast täglichen Trauerzüge, alles Beispiele für gewaltfreien Widerstand, der in Israel und im Westen weitgehend unbemerkt blieb. Unbemerkt, das heißt, bis der Kampf gegen die Apartheidmauer Gestalt annahm und sowohl westliche als auch israelische Aktivist*innen involvierte.

Allerdings, und ich kann nicht genug betonen, wie wichtig es ist, das zu verstehen, hat die palästinensische Definition von Gewaltlosigkeit - oft im Rahmen des umfassenderen und einzigartigen palästinensischen Konzepts von sumoud (unerschütterliche Beharrlichkeit) - nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit der Gewaltlosigkeit, die von den liberalen “Friedenspolizei”-Typen, denen man im Westen begegnet, fetischisiert wird. Die beiden Definitionen sind so weit voneinander entfernt wie die alltäglichen Realitäten, in denen die beiden Gruppen leben und kämpfen.

In erster Linie hat die palästinensische Gewaltlosigkeit nichts mit “moralischer Überlegenheit” und “sich auf ihr Niveau herablassen” zu tun, was für westliche Anarchist*innen ein Hauch von frischer Luft sein sollte. Einfach ausgedrückt, es geht ihr weniger darum, ihr eigenes Spiegelbild zu glätten, als vielmehr ihre Ziele zu erreichen. Außerdem haben sich die Palästinenser*innen schon seit Jahrzehnten nicht mehr von der Sorge vor negativer Medienberichterstattung leiten lassen. Die Vergangenheit hat deutlich gezeigt, dass das Festhalten am gewaltlosen Widerstand ihnen nicht die Unterstützung der so genannten internationalen Gemeinschaft eingebracht hat - nicht einmal vor dem Wahn des Krieges gegen den Terror.

Der berühmte “arabische Gandhi” Mubarak Awad, ein christlicher palästinensischer US-Amerikaner und Hauptbefürworter des gewaltlosen palästinensischen Widerstands, gründete in den 80er Jahren das Palestinian Center for the Study of Nonviolence. Er war dabei direkt ganz offen, dass es sich eher um eine pragmatische als um eine Gandhische Angelegenheit handelte (obwohl er immer noch politisch versiert genug ist um die beiden gelegentlich miteinander zu vermischen):

“Für die Palästinenser*innen im Westjordanland und im Gazastreifen ist Gewaltfreiheit die wirksamste Strategie. Das bedeutet nicht […] eine Ablehnung des Konzepts des bewaffneten Kampfes. Einfach ausgedrückt lautet die These, dass in dieser besonderen historischen Periode und nur in Bezug auf die 1,3 Millionen Palästinenser*innen, die unter israelischer Besatzung leben, Gewaltlosigkeit die wirksamste Methode ist, um die Politik der ‘Judaisierung’ aufzuhalten.”

Sein Schüler Nafez Assaily, der heute ein eigenes kleines Gewaltfreiheits-Projekt in der Stadt Hebron betreibt, macht das ebenso deutlich. Unter Bezugnahme auf Jassir Arafats Rede vor der UNO, bei der er in der einen Hand eine Waffe und in der anderen einen Olivenzweig hielt, weist Assaily darauf hin, dass “keine Hand die andere aufhebt”.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass “gewaltfrei” im politischen Vokabular der Palästinenser*innen gleichbedeutend ist mit “unbewaffnet” - und selbst dann nur, wenn mit “Waffen” Gewehre gemeint sind und nicht mit Benzin und Motoröl gefüllte Flaschen. Gewaltfreiheit wird als Begriff verwendet, um breiten Widerstand zu beschreiben, also Aktionen, an denen sich alle beteiligen können, im Gegensatz zum bewaffneten Kampf, der von einigen wenigen geführt wird.

Im Gegensatz zu den Liberalen setzen die von mir zitierten palästinensischen Befürworter*innen der Gewaltfreiheit diese nicht mit dem Werfen von Steinen oder dem Einschlagen von Fenstern gleich, sondern nur mit dem Ergreifen einer Schußwaffe. David Graeber berichtet in seinem offenen Brief an Chris Hedges von einer Begegnung mit einem ägyptischen Aktivisten, der eine ähnliche Position in Bezug auf den dortigen Aufstand im vergangenen Jahr vertrat: “Natürlich waren wir gewaltfrei. Niemand hat jemals Schusswaffen oder etwas Ähnliches benutzt. Wir haben nie etwas militanteres getan, als Steine zu werfen!

Wenn ich zum Vergleich auf die amerikanische Neue Linke zurückgreifen darf: Die Antikriegsorganisation SDS hat sich in den 60er Jahren als “nicht gewalttätig, aber auch nicht gewaltfrei” definiert, was zwar ein wenig zungenbrecherisch ist, aber viel genauer, um nicht zu sagen ehrlicher. Diese Definition haben die Palästinenser*innen im Sinn, wenn sie von einem gewaltfreien Kampf sprechen, insbesondere im Zusammenhang mit den laufenden Demonstrationen gegen die Apartheidmauer.

Palästinenser*innen, wie fast alle außer den herrschsüchtigen Doktrinär*innen der Gewaltlosigkeit im Westen, betrachten Selbstverteidigung nicht als eine Form von Gewalt; das erweitert ihre Definition von Gewaltlosigkeit erheblich. Und da sie zufällig unter militärischer Besatzung leben, ist jeder Schaden, den sie den Besatzer*innen - Soldat*innen, Bürokrat*innen, Polizist*innen, Maschinenbediener*innen, Grenzer*innen oder Siedler*innen - zufügen, im Wesentlichen eine Form der Selbstverteidigung. Dies gilt selbst nach den konservativen Standards des Völkerrechts, insbesondere der UN-Erklärung von 1960 über die Gewährung der Unabhängigkeit von Kolonialländern und -völkern, nicht dass wir uns einen Dreck um juristische Fragen kümmern sollten. Diese breitere, fließende Definition mag es den Eiferer*innen der Gewaltlosigkeit erschweren, ihre starren und moralistischen Abgrenzungen aufrechtzuerhalten, aber für den Rest von uns ist sie einfach eine Bestätigung des gesunden Menschenverstandes. Bei aller Dummheit haben die amerikanischen Libertären einen klareren, selbsterklärenden Begriff dafür: das Prinzip der Nichtangriffsbereitschaft. Man fängt keinen Scheiß an, aber man behält sich die Option vor zu antworten.

Tritt mensch einen Schritt zurück, um die Rhetorik der Gewaltlosigkeit in Palästina aus einer breiteren gesellschaftspolitischen Perspektive zu betrachten, so scheint es klar zu sein, dass ein wesentlicher Teil des Grundes, warum sie in der Widerstandsbewegung nicht fester Fuß fassen konnte, in der Tatsache liegt, dass das Konzept in den 80er Jahren in Palästina eingeführt wurde. Damals war die Palästinensische Befreiungsorganisatio, (PLO) in deren Charta der bewaffnete Kampf als einziges Mittel zur Befreiung ausdrücklich genannt wurde, die unangefochtene Repräsentanz. Es war eine Zeit, bevor religiöse Organisationen begannen, in nationalistischer Terminologie zu sprechen und die politische Arena zu betreten, bevor die Hamas den Islam zu einer Befreiungstheologie machte. Einen Weg des Widerstands außerhalb der PLO vorzuschlagen, war tabu und kam einer direkten Infragestellung der Autorität der Organisation gleich, besonders wenn es sich um einen Außenseiter wie Mubarak Awad handelte. In der Tat betrachtete die PLO-Führung, die damals in Tunis im Exil lebte, die Rhetorik der Gewaltlosigkeit als potenzielle Bedrohung ihrer Macht und stand ihr äußerst feindselig gegenüber. Während der Steuerrevolte in Beit Sahour beispielsweise verweigerte die PLO den Teilnehmenden logistische Hilfe, hielt weitere Gemeinden aktiv davon ab, sich anzuschließen und verweigerte den wegen ihres Steuerwiderstands Verfolgten finanzielle Hilfe, während sie sie den Familien der bei den gewaltsamen Zusammenstößen Getöteten oder Verwundeten anbot.

Natürlich war Gewalt auch wegen ihres offensichtlichen symbolischen Werts das dominierende Motiv des palästinensischen Widerstands: die Ermächtigung, die sie einem Volk bietet, das - ähnlich wie die israelischen Jüd*innen - in seiner nationalen Identität ein starkes historisches Gefühl der Ohnmacht, fast ontologische Opfer zu sein, in sich trägt. Wenn ich es mir überlege, könnte das auch für viele Anarchist*innen gelten. Die größte Fraktion der PLO, die Fatah, nahm in ihre interne Charta den vielsagenden Satz auf, dass “der bewaffnete Kampf eine Strategie und keine Taktik ist” (Artikel 19) und eine ihrer ersten Broschüren war eine Übersetzung von Frantz Fanons Wretched of the Earth (Die Verdammten dieser Erde) in dem Gewalt bekanntlich zur Wiederherstellung der Selbstachtung, zur Befreiung der “Eingeborenen” von ihren Minderwertigkeitskomplexen und sogar als Mittel zur “Einigung des Volkes” verklärt. All das hat die Grenze zwischen Mittel und Zweck etwas verwischt und es höchst unwahrscheinlich gemacht, dass die Rhetorik der Gewaltlosigkeit im palästinensischen Widerstand solide Fuß fassen konnte, selbst in ihrer reinsten taktischen Form.

Auf israelischer Seite gehören die Anarchist*innen gegen die Mauer und die Internationale Solidaritätsbewegung zu den wichtigsten Verbreiter*innen des Mythos der palästinensischen Gewaltfreiheit, wohl wissend, dass das westliche Publikum, praktisch unser einziges Publikum, diesen Begriff in einem anderen Kontext und viel enger versteht. Es geschieht nicht so sehr durch offenes Lügen, sondern durch Weglassen, durch stillschweigendes Ausnutzen von Zweideutigkeiten oder durch das Festhalten an realen oder eingebildeten, aber so oder so unbedeutenden Formalitäten: zum Beispiel die Behauptung, dass die Steine werfenden Shebabs technisch gesehen nicht zu den Protestzügen oder Demonstrationen gehören. Diese Behauptung ist unaufrichtig. Erstens, weil die Komitees, die die Proteste in den einzelnen Dörfern organisieren, tatsächlich mit den steinewerfenden Jugendlichen zusammenarbeiten und die Bewegungen der Menge koordinieren - vielleicht nicht im Voraus, aber in Echtzeit, vielleicht nicht immer, aber oft genug. Zweitens, weil die angebliche kategorische Unterscheidung zwischen “Steinewerfenden” und “Demonstrierenden” nur in der Theorie existiert und in der Praxis keine Spur davon ist. Und schließlich, weil, selbst wenn es sie gäbe, beide Gruppen gleichwertige Teile des umfassenderen Phänomens des palästinensischen Kampfes sind.

Es gibt noch andere Gründe, warum der Mythos der palästinensischen Gewaltlosigkeit bis zum Überdruss verbreitet und durch Wiederholung zur Wahrheit wird. Für die eher liberalen oder etablierten Teile der palästinensischen Gesellschaft ist es zum Beispiel eine Frage des kalten Geldes: 30 % des palästinensischen BIP stammen aus ausländischer Hilfe. Die verschiedenen Stiftungen, Wohltätigkeitsorganisationen und Regierungen, die Hunderte von palästinensischen Nichtregierungsorganisationen im Westjordanland und im Gazastreifen finanzieren, beharren selbstverständlich einhellig auf einer gewaltfreien Politik und der damit verbundenen Rhetorik. Da die palästinensischen NGOs diese Linie vorantreiben, halten sich Aktivist*innen im Westen nur allzu gerne daran, und zwar ohne Rücksicht auf die Fakten.

Unter israelischen Radikalen, AAtW eingeschlossen, wärst du überrascht, wie oft alles auf unbewältigte liberale Komplexe hinausläuft und auf eine Tendenz, die Dinge für politisch korrekte Massen mit banalen (Fehl-)Schlüssen zu vereinfachen: a) die Guten sind nicht gewalttätig, b) die Palästinenser*innen sind die Guten in diesem Konflikt, c) ergo ist der palästinensische Kampf gewaltlos. Anders ausgedrückt: Da israelische Soldat*innen Sauerstoff einatmen und Kohlendioxid ausatmen, wird von den Palästinenser*innen erwartet, dass sie das Gegenteil tun.

Heute, wo Hunderte, vielleicht Tausende von Videos aus zehn Jahren wöchentlicher Demonstrationen online für alle zugänglich sind, ist es ein wahrer Beweis für die Kraft der kognitiven Dissonanz, dass Menschen diesen Kampf weiterhin als “gewaltfrei” bezeichnen können. Politisch gesehen ist der besorgniserregendste Aspekt von all dem jedoch die Delegitimierung des gewaltsamen palästinensischen Widerstands, die mit der Aufrechterhaltung des Mythos der Gewaltlosigkeit einhergeht. Anstatt uns vorzumachen, dass die Palästinenser*innen auf die Gewalt, die ihnen angetan wird, gewaltlos reagieren sollten oder dies tun, sollten wir die palästinensische Gewalt gegen die weitaus größere Gewalt der israelischen Apartheid zugeben, annehmen und von ganzem Herzen unterstützen.

Darüber hinaus steht die herrschende Rhetorik der Gewaltlosigkeit in Bezug auf den palästinensischen Widerstand in starkem Kontrast zur allgemeinen Akzeptanz der Gewalt von zapatistischen Gemeinden, die sich gegen Paramilitärs verteidigen, oder von Naxaliten in den Wäldern Indiens, die sich mit Landminen und automatischen Gewehren gegen Infrastrukturunternehmen wehren, oder von MEND-Rebell*innen im Niger-Delta, die westliche Konzerne bekämpfen, indem sie Ölquellen und Pipelines angreifen und dabei Arbeiter*innen, Securitys und Soldat*innen töten. Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Wie einige Palästinenser*innen selbst in letzter Zeit gefordert haben, rufe ich alle dringend auf, sich ein für alle Mal wegen ihrer Besessenheit von der Gewaltfreiheit behandeln zu lassen, wenn es um den palästinensischen Widerstand geht.

Was nun die eigene Taktik von AAtW betrifft, so war Gewaltlosigkeit für uns als jüdische Bürger*innen und ungleiche Partner*innen im gemeinsamen Kampf immer die Standardeinstellung. Von Anfang an waren wir darauf bedacht, eine strikt unterstützende Rolle zu spielen und niemals die Führung zu übernehmen oder Initiativen zu ergreifen, wozu die avantgardistischen Tendenzen, die in der politischen Gewalt latent vorhanden sind, in der Regel verleiten. Ursprünglich hatten wir beschlossen, die Gewaltfreiheit nicht als kollektive Leitlinie zu übernehmen, sondern diese Frage von allen nach ihrem je eigenen Ermessen beantworten zu lassen. Nach den ersten Jahren begannen jedoch einige wichtige Aktivist*innen auf einen formellen Beschluss zugunsten der Gewaltlosigkeit zu drängen, und das wurde tatsächlich zum Hauptstreitpunkt innerhalb der AAtW.

Oberflächlich betrachtet, waren die Gründe für diese Forderung rein praktischer Art und machen auch Sinn. Der erste Grund ist, dass die Gewaltlosigkeit es uns ermöglicht, ein sichereres Netzwerk für weniger militante Aktivist*innen sowie für Angehörige der Mainstream-Linken anzubieten, die an Demonstrationen in Dörfern im Westjordanland teilnehmen möchten. Das ist eine wichtige Funktion, denn vor dem gemeinsamen Kampf hatten viele Israelis die Realität der Besatzung und der Apartheidmauer nicht mit eigenen Augen gesehen. Der Slogan der Gewaltfreiheit hat wesentlich dazu beigetragen, dass Hunderte von Israelis die Brutalität der israelischen Armee aus erster Hand miterleben konnten, was AAtW nie erreicht hätte, wenn sie nicht als gewaltfrei wahrgenommen worden wären. Der zweite Grund hat damit zu tun, dass wir als jüdische Bürger*innen durch unsere Anwesenheit bei palästinensischen Demonstrationen die Soldat*innen daran hindern können, bestimmte Arten von tödlicher Gewalt, wie z.B. scharfe Munition, einzusetzen, da die Soldat*innen andere und strengere Regeln für den Einsatz gegen Jüd*innen als gegen Palästinenser*innen haben. Grundsätzlich waren einige bei AAtW der Meinung, dass, wenn israelische Aktivist*innen aktiv Gewalt gegen Soldat*innen ausüben würden, dies unsere Fähigkeit, unser jüdisches Privileg als Abschreckung zu nutzen, allmählich untergraben würde, bis wir es schließlich ganz verlören.

Das sind berechtigte Bedenken, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich unter der taktischen Oberfläche nicht allzu weit entfernt die üblichen liberalen Befindlichkeiten und Ängste vor Gewaltanwendung verbergen; und auch, dass sich hinter der politischen Begründung unser jüdisches Privileg zu nutzen, eine nur allzu verbreitete persönliche Angst verbirgt, dieses Privileg aufzugeben, Punkt. Außerdem halte ich unsere Rolle als eine Art “menschliches Schutzschild” für völlig falsch: Meiner Erfahrung nach gehen die meisten Soldat*innen bereits davon aus, dass israelische Anarchist*innen sie zusammen mit Palästinenser*innen mit Steinen bewerfen oder wenn nicht, dass sie das Steinewerfen zumindest unterstützen und erleichtern, was in ihren Augen schon schlimm genug ist. Israelische Soldat*innen legen keinen so großen Wert auf komplizierte ethische Unterscheidungen zwischen einer Person, die Steine auf sie wirft, und einer anderen Person, die in der Nähe steht und das Recht der ersteren verteidigt, dies zu tun. Mit anderen Worten: Der Wunsch der Soldat*innen die rechtlichen Probleme zu vermeiden, die mit der Erschießung jüdischer Bürger*innen verbunden sind, spielt bei ihrer Zurückhaltung, das Feuer auf uns zu eröffnen, eine viel größere Rolle als ihr Eindruck, dass israelische Anarchist*innen “es nicht verdienen”. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Kampfsoldat*innen der Meinung sind, dass wir es verdienen, unabhängig davon, ob wir uns tatsächlich den Steinewerfenden anschließen oder sie nur beschützen.

Weitere Lektüre

It’s All Lies [PDF, 44 MB], eine Sammlung von Untergrundpublikationen aus den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Buchform, aus der eine Website hervorgegangen ist, die noch heute genutzt wird.

Anarchists Against the Wall